– jüdisches Leben in Deutschland Teil 2
– mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Juden in Hamburg
Die Aufklärung als Zeitalter der Vernunft und erneuter Judenhass
Die Zeit der A u f k l ä r u n g wird für viele Juden zu einer Gelegenheit, das geistige Leben in Deutschland mitzubestimmen. Hier ist vor allem MOSES MENDELSSOHN zu nennen, der aus Dessau 1743 nach Berlin kommt und durch seine Schriften hohes Ansehen genießt: Er übersetzt erstmalig die hebräische Bibel ins Deutsche, verfasst Bibelkommentare und Schriften zur Philosophie („Phaidon oder die Unsterblichkeit der Seele“) und zur Pädagogik. Und er wird Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Sein Enkel Felix Mendelssohn-Bartholdy aus Hamburg wird einer der bedeutendsten deutschen Komponisten (1809 -1847). Mit dem Aufstieg von Juden in der Wirtschaft und Kultur wächst auch der Neid: Antisemitische Parolen werden verbreitet: Der Historiker Heinrich von Treitschke löst mit seinem Ruf: “Die Juden sind unser Unglück“ den Berliner Antisemitismus – Streit aus. Auch bekannte deutsche Dichter wie Theodor Fontane und Gustav Freytag („Soll und Haben“) sind an der Verbreitung einer rassistischen Judenfeindschaft beteiligt. Der Hofprediger Adolf Stoecker schürt mit seinen Predigten den Hass auf Juden am Hofe Kaiser Wilhelm II. Von hier aus führt die direkte Linie zum Antisemitismus der Nationalsozialisten. Um diesem wachsenden Judenhass zu begegnen, wird 1893 der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gegründet. Und es entsteht eine zionistische Bewegung. Der österreichische Journalist Theodor H e r z l schreibt sein Buch „Der Judenstaat“ (1895). Es löst eine Auswanderung nach Palästina aus, denn es hat die Gründung eines jüdischen Staates zum Ziel. In Hamburg wird die deutsch- israelitische Gemeinde in einen Religionsverein überführt, in dem liberale und orthodoxe Juden vereinigt sind („Hamburger System“). Die 1805 als erste jüdische Schule mit orthodoxer Lehrweise gegründete Talmud- Tora – Schule wird im Grindelviertel neu errichtet und 1911 eröffnet. Neben ihr wurde die S y n a g o g e a m B o r n p l a t z gebaut (1906). Sie wird wie die meisten anderen Synagogen am 9.11. 1938 durch den staatlich angeordneten Naziterror (Reichspogromnacht) von SA-Truppen zerstört. Zu bekannten jüdischen Persönlichkeiten gehört der Bankier und Kaufmann Salomon H e i n e (gest. 1844), der seinen Neffen H e i n r i c h H e i n e in der Dichtkunst fördert. In vielen Großstädten entstehen Hertie-Warenhäuser der Familie Tietz, in Hamburg 1912 am Jungfernstieg (seit 1935 arisiert als „Alsterhaus“). Durch Auswanderung von ca. 2,5 Mio. Juden aus Russland und der Ukraine nach Amerika wird die Schifffahrtslinie HAPAG mit 200 Schiffen größte Reederei weltweit.
Albert B a l l i n ist ihr Chef und er ist mit Kaiser Wilhelm II. befreundet. In Hamburg entsteht durch die Missionstätigkeit der Irisch-Presbyterianischen Kirche mit dem Pastor Arnold Frank die größte judenchristliche Gemeinde in Deutschland. Frank ist getaufter Jude und gründete mit dem Neubau der J e r u s a l e m – K i r c he noch ein Diakonissenwerk und das Jerusalem-Krankenhaus (Bau 1911- 1913 ) in der Nähe vom Schlump. Die Gemeinde mit über 100 Mitgliedern wurde in der Zeit der NS- Diktatur verfolgt und verboten.
Obwohl im 1. Weltkrieg rund 100.000 Juden für das Deutsche Reich kämpften und davon etwa 12.000 fielen, wurden sie nach dem Krieg angefeindet, weil einige Juden an der russischen Revolution und der Entstehung der Weimarer Republik beteiligt waren – sie wurde „Judenrepublik“ genannt. Die Gründung der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) 1918 und das tödliche Attentat auf Außenminister Walther Rathenau 1922 waren Vorboten des aufkommenden Nationalsozialismus. Doch gab es da noch einmal eine Blütezeit des deutschen Judentums. In Wissenschaft, Kunst und Kultur leisteten Juden Bedeutendes, z.B. Martin Buber, Franz Rosenzweig, Leo Baeck und Gershom Scholem, aber auch Einstein, Freud, Erich Fromm, Kurt Weill, Franz Kafka, Gustav Landauer, Erich und Paul Mühsam, Ernst Cassirer, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Nelly Sachs, Stefan Zweig, Max Liebermann, Lion Feuchtwanger, Max Reinhardt und Philipp Rosenthal (Porzellanfabrikant). Wir ahnen, was für einen unermesslichen Verlust die Katastrophe des Holocaust für uns alle bedeutete. Deutsche Juden waren mit Leib und Seele Deutsche. Franz Rosenzweig gebrauchte das Bild der beiden Herzkammern, um auszudrücken, dass sein Judesein und Deutschtum zusammengehörten.
Im Schicksalsjahr 1933 lebten ca. 500.000 Juden in Deutschland, ein Drittel in Berlin. Mit Hitlers Machtübernahme begann die Judenverfolgung. 2.000 antijüdische Gesetze machten das Leben schwer. Bis zum Ausreiseverbot 1941 flohen 276.000 aus Deutschland (nach dem Pogrom 9.11. 1938 allein 78.000).
In Hamburg wurden ab Herbst 1941 tausende Juden nach Lodz, Minsk und Riga deportiert, unter ihnen der letzte Oberrabbiner Dr. Joseph C a r l e b a c h mit seiner Familie. Sie wurden im März 1943 ermordet. Nach ihm wurde später der Platz benannt, wo die Bornplatzsynagoge 1938 ein Opfer der Flammen wurde. Es blieben Reste einer Außenmauer. Sie soll nun wieder aufgebaut werden! Insgesamt wurden von den Hamburger Juden 8.877 ermordet. Unweit des Dammtorbahnhofs erinnert ein Mahnmal an die Deportationen.
Nachkriegszeit: jüdischer Wiederaufbau – Zuzug aus Rußland und Israel
Nach dem Krieg gab es 1945 noch etwa 15.000 deutsche Juden, die den Völkermord überlebt hatten. Viele osteuropäische Juden, die aus den KZs befreit worden waren, blieben bis zur Staatsgründung Israels 1948 in Deutschland, reisten aber dann zum größten Teil aus. Einige prominente Juden kehrten aus dem Exil nach Deutschland zurück. Der Philosoph Ernst Bloch oder der Komponist Hanns Eissler und die Schriftsteller Arnold Zweig und Stefan Heym gingen nach Ostberlin, andere wirkten in Westdeutschland: Richard Löwenthal, Max Horkheimer, Theodor Adorno. Zur Vertretung jüdischer Interessen der neu entstandenen Gemeinden wurde 1952 der ZENTRALRAT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND gegründet. In Israel und USA verstand man nicht, warum Juden nach dem Naziterror wieder in Deutschland leben wollten. Im Westen waren ca. 15.000, in der DDR nur noch etwa 400 Juden geblieben. Mit der deutschen Wiedervereinigung begann 1990 auch für Juden ein neues Kapitel: Vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion kamen Juden nach Deutschland, allein von 1991 – 2004 rund 220 000. Fast 80 % waren auf Sozialhilfe angewiesen. Später kamen noch einmal 30 000 Juden dazu.
Mit zunehmendem Antisemitismus ging die Zahl der jüdischen Bürger in Deutschland wieder leicht zurück, so dass wir heute von einer Gesamtzahl von etwa 250.000 Juden ausgehen, von denen mehr als Hälfte in jüdischen Gemeinden organisiert ist.
In Hamburg sind es 2.350 Mitglieder in verschiedenen Gemeinden. Interessant ist: In Berlin leben ca 35.000 jüdische Einwohner. Tausende Israelis leben in der Hauptstadt, auch in Hannover, Frankfurt oder Hamburg. Sie werden oft deutsche Staatsbürger und ziehen das Leben hier dem in Israel vor. In Hamburg soll die Synagoge am Bornplatz nach über 80 Jahren wieder aufgebaut werden. Fragt sich nur, auf welche Weise? Der Wiederaufbau macht Sinn, wenn es auch in Zukunft eine jüdische Gemeinde gibt, die sich in diesem Haus versammeln kann. In jedem Fall sollte der Neubau eine Ausstellung enthalten, die dem Gedenken der Juden in Hamburg und in Deutschland gewidmet ist. Angesichts der erschreckenden Zunahme des alten und neuen Judenhasses fragen sich Juden in Deutschland, ob sie hier weiterhin in Sicherheit leben können. Wir sollten Juden in Deutschland ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglichen und die regionalen Konflikte aus dem Nahen Osten dort lassen.
Text: Friedrich Quaas, Pastor i.R.